Vergangenen Freitag fahre ich mit meiner Mitbewohnerin zum LAGeSo in die Turmstraße 21 in Berlin-Moabit. Wir haben spontan Geld gesammelt und wollen gucken, ob unsere Hilfe vor Ort benötigt wird. Vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, also der Erstaufnahmehörde für Geflüchtete in Berlin, harren gerade viele hundert, vielleicht sogar tausend Menschen bei Temperaturen um 39 Grad aus. Bilder davon habe ich schon in der Presse gesehen. Dass ich durstigen Menschen Wasser geben kann, verstehe ich, als wir den langen Weg zum Hauptgebäude entlang laufen. Aber was noch? Ich habe keine Ahnung. Vor Ort finden wir Wiesen voller Familien, die auf Pappkartons oder Decken sitzen, hunderte Männer, die seit Stunden, Tagen und Wochen in einem riesigen Mob vor dem Eingang der Behörde warten, Kinder ohne Schuhe und Helfer, die unentwegt Essen, Wasser und Hygieneartikel wie Windeln und Feuchttücher bringen. Wir schließen uns einem jungen Mädchen an, das alleine hergekommen ist, um zu helfen, und gerade zwei Sixer Wasser auf den Platz hievt. Mit den Flaschen kommen wir nicht weit, die Männer nehmen sie dankend entgegen. Im Haus R –offizielles Spendenlager und Anlaufstelle für Helfer – tummeln sich viele Menschen, die aus ihren Autos kistenweise Obst und Brot tragen, Helfer, die im Chaos der Regale versinken und Geflüchtete, die nach Unterwäsche oder Tragetaschen fragen. Ein junger Mann gibt uns große Müllbeutel und Einweghandschuhe. Ob wir den Müll auf dem Gelände einsammeln könnten. Die Wespen seien auf dem Vormarsch und es mehrten sich Kleinkinder mit Stichen vor dem Wagen der Malteser, die eine ärztliche Grundversorgung anbieten. Es täte ihm Leid, dass er keine schönere Aufgabe für uns habe. Vier Müllsäcke später bin ich komplett durchgeschwitzt, dreckig und voller Eindrücke, die ich mit den leeren Verpackungen, Feuchttüchern und Karottenenden aufgesammelt habe. Bei der Aufgabe kommt man den Menschen nahe. Ein junger Mann fragt mich, ob das Müllsammeln mein Job sei, ob ich dafür bezahlt werde. Ich verneine. Warum ich es dann tue, will er wissen. „To help“, sage ich. Er legt die Hände vor seiner Brust aufeinander. „Thank you“, sagt er aufrichtig, dann hilft er mir, den kleinen Brunnen von Plastik zu befreien. Ich bin gerührt. Als ich auf dem Weg ins Lager bin, um neues Wasser zu holen, spricht mich ein Mann an. Er versucht die Dokumente zu deuten, die er vom Amt bekommen hat. Sie sind auf Deutsch, er kommt aus Kobane. Er tippt Worte in sein altes Handy. Arabische Zeichen. Keine Ahnung, was er will. Ich studiere die Zettel und versuche ihm zu erklären, dass er in die Notunterkunft nach Spandau fahren muss. U9 bis Berliner Straße, U7 bis Rathaus Spandau, dann in den Bus M45 Richtung Johannesstift bis Hügelschanze. Ich schwitze, und das nicht nur wegen der 39 Grad draußen. Der Mann stellt weiter Fragen. Welche Sprache spricht man noch mal in Kobane? Syrisch? Arabisch? Kurdisch? Ich ärgere mich über mich selbst. Dann finde ich nach einiger Suche eine Dolmetscherin, die zumindest eine ähnliche Sprache spricht wie der Mann. Irgendwann nimmt er seinen kleinen Rucksack und verlässt den Platz über die lange Zufahrtsstraße. Dass zwischendurch ein Polizeigroßaufgebot nach einer Rangelei das Gelände gestürmt hat, kriege ich nur am Rande mit. Ich stehe wieder vor meiner Mitbewohnerin, ihr Oberkörper ist geschwollen und rot. „CS-Gas“, sagt sie. In der eingekesselten Menge waren Kleinkinder, die sie vor dem Spray geschützt hat. Ich schlucke. Plötzlich kommt es mir unsinnig vor, dass ich mich vorhin über den Wespenstich unter dem Arm beschwert habe. Generell kommt mit alles sehr unsinnig vor, zum Beispiel, dass ich gerade eigentlich einen Blogpost über Hipsterkram schreiben sollte. Wir sind schon etwa acht Stunden auf dem Platz, als ein einzelner Mann mit rosa T-Shirt ziellos durch die Gegend irrt. „Do you need help?“, fragen wir ihn. Er nickt und zeigt uns den Infozettel, den er vom Amt bekommen hat. Er habe alle Hostels auf der Liste mit Mühe und Not gefunden, keines wollte ihn aufnehmen. (Eine Problematik, die gerade viele trifft.) Seit Tagen wohne er auf dem Gelände des LAGeSo, er sei verzweifelt, er wolle doch nur irgendwo schlafen. „Please help me“, fleht er uns an. Wir wissen: Auf dem Gelände ist offiziell schon Feierabend, wir werden vielleicht nicht mehr viel erreichen können, aber diesen Mann bringen wir heute Nacht irgendwo unter. Und wenn wir ihn selbst mit nach Hause nehmen. Er fragt mich nach meinem Namen. „Jule, Jule, Jule“, übt er flüsternd, als wäre es ihm wichtig, dass er den Namen einer Person kennt, die hier lebt. Irgendeinen. Jamil kommt aus Pakistan und spricht ein wenig Englisch, das hilft. Geduldig folgt er uns über das Gelände. Er sei über Griechenland nach Europa gekommen, erzählt er. Alle Deutschen seien so nett und hilfsbereit, auch wenn das mit dem Amt nicht so ganz klappe. Er wolle sich nicht beschweren. Ich mag ihn. Etwa 200 Menschen sind noch auf dem Platz vor dem Hauptgebäude, als es plötzlich heißt, dass eine Notunterkunft in Köpenick bezugsfertig sei. Vier Busse würden kommen und alle Leute mitnehmen. Wir sind erleichtert. Die Menschen, die hier seit Tagen und Wochen draußen auf dem Boden schlafen, werden heute Nacht ein Dach über dem Kopf und wahrscheinlich sogar ein Bett haben. Ich habe keine Zeit, mich zu fragen, warum das so viele Wochen gedauert hat und wieso erst der große Druck der Medien zu dieser Lösung geführt hat. Wir helfen den Familien, ihr Hab und Gut zur Straße zu tragen. Frauen und Kinder dürfen in den ersten Bus, die Männer warten, die Polizei sichert. Inzwischen ist die Lage aber entspannt. Eine Rentnerin namens Renate schreit die Polizisten in ihren Kampfausrüstungen an. Es sei eine Frechheit, dass es den Bürgern noch erschwert würde, Spenden zu den Geflüchteten zu bringen. Dass die Stadt es noch nicht geschafft hat, zumindest die Grundversorgung der Menschen zu klären. Später erzählt sie uns, wie sie einst mit ihrer Familie aus Schlesien geflohen ist und bei ihr die Emotionen überkochen, wenn sie Geflüchtete in Not sieht. Plötzlich kommt ein Mann lächelnd auf uns Helfer zu und will jedem von uns eine Banane in die Hand drücken. Wir lehnen ab. Wie könnten wir auch diese Bananen annehmen? Er besteht darauf. Also essen wir. Er guckt uns zufrieden zu, während wir unsere erneute Rührung mit dem Obst hinunterschlucken. Der zweite Bus ist fast voll, als eine Helferin uns zuflüstert, dass das nun doch der letzte sei. Der Rest müsse später zu einer Lagerhalle laufen. „Wir haben noch vier Plätze frei“, sagt sie. Ich laufe zu Jamil. „Please take this bus!“, bete ich ihn. Jamil bedankt sich aufrichtig. „Thank you very very much, Jule“, sagt er. Dann rennt er in den Bus. Den Mann mit den Bananen schicken wir schnell noch hinterher. Ich bin erleichtert, als Jamil mir vom Innern des Busses zuwinkt und erneut „Thank you“ flüstert. Für eine Woche wird er ein Dach über dem Kopf haben. Jamil wird wohl leider lernen müssen, dass seine lange, beschwerliche Reise hier noch kein Ende gefunden hat und dass nicht jeder Deutsche automatisch sein Freund sein wird. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass ich ihn irgendwann zufällig mal auf der Straße treffen werde – geduscht und ausgeschlafen auf dem Weg zur Arbeit. Als wir um 22 Uhr zu Hause ankommen, kann ich lange nicht schlafen. Ich fühle mich irgendwie schlecht für all die Dinge, die ich besitze und weil ich nur helfe, wenn die Menschen quasi vor meiner Haustür in Not sind. Ich denke an den Tag. An Menschen, die alles geben und an Menschen, die nichts haben. An Männer mit Kindern, die auf dem Weg nach Europa den Rest der Familie im Meer verloren haben. Es sind die Geschichten, die man aus dem Fernsehen kennt. Nun haben sie konkrete Gesichter und Namen. Und wenn sich irgendwer tatsächlich fragt, ob es richtig ist, diesen Menschen ein Stück Brot, eine Flasche Wasser und eine Zahnbürste zu geben, kann ich nur sagen: Kommt doch mal für ein paar Stunden nach Moabit und macht euch euer eigenes Bild. Ich zeige euch gerne, wo ihr die Müllbeutel und Windeln findet. Seit Tagen sind die freiwilligen Helfer unermüdlich im Einsatz, die Versorgung der Geflüchteten zu koordinieren. In den letzten Tagen wurde erreicht, dass fast alle Frauen, Kinder und Alte in Unterkünften in Moabit und Köpenick unterbracht werden konnten. Aber auch an diesen Unterkünften mangelt es an grundlegenden Dingen wie Schuhen oder Essen. Die Welle der Ankommenden ebbt nicht ab. Wir bitten euch daher, weiter tatkräftig zu unterstützen. Es werden nicht nur Sachspenden gebraucht, sondern auch Ärzte, Übersetzer, Kinderbetreuer und Helfer allgemein. Hier ist eine Liste aller Dinge, die aktuell benötigt werden. Allgemeine Infos und Anlaufstellen findet ihr auf www.berlin-hilft-lageso.de. Auf Facebook findet ihr die Gruppe zur besseren Koordinierung der Hilfe für Geflüchtete vorm LAGeSo Die Geflüchteten am LAGeSo in Berlin „Ich denke an den Tag. An Menschen, die alles geben und an Menschen, die nichts haben. An Männer mit Kindern, die auf dem Weg nach Europa den Rest der Familie im Meer verloren haben. Es sind die Geschichten, die man aus dem Fernsehen kennt. Nun haben sie konkrete Gesichter und Namen. Und wenn sich irgendwer tatsächlich fragt, ob es richtig ist, diesen Menschen ein Stück Brot, eine Flasche Wasser und eine Zahnbürste zu geben, kann ich nur sagen: Kommt doch mal für ein paar Stunden nach Moabit und macht euch euer eigenes Bild.“ Was ich in der ersten Woche am LAGeSo in Berlin gelernt habe. Zuerst erschienen auf: www.imgegenteil.de Erscheinungsdatum: 12. August 2015 Folgeartikel vom 18. August 2015 Was am LAGeSo los ist