Ich war ein schüchternes Kind. Ich erinnere mich daran, dass ich im Sommer – vielleicht war ich sechs Jahre alt – unbedingt ein Eis essen wollte. Meine Mutter gab mir Geld und bat mich, es mir selbst zu kaufen, weil sie sich gerade mit einer Freundin unterhielt. Ich traute mich nicht. Ich hatte Angst vor dem Verkäufer – nicht, weil der ansatzweise böse aussah, es reichte schon, dass er mir fremd war. Absolute Zwickmühle. Ich heulte solange rum, bis meine Mutter nachgab und mir das doofe Bum Bum endlich kaufte. Mit anderen Kids auf dem Spielplatz abhängen? Undenkbar. Ich buddelte lieber alleine rum. Mal abgesehen davon, dass ich mich wegen akuter Runterfallangst eh nicht auf das Klettergerüst getraut hätte. Ich sprach nicht sonderlich viel, mit Männern schon gar nicht. Obwohl ich Einsen schrieb, meldete ich mich später nie in der Schule, weil ich dann was hätte sagen müssen. Ich wollte auch nie vorlesen, von Ausflügen an die Tafel mal ganz zu schweigen. Ich saß gerne zu Hause an meinem Schreibtisch, hörte Michael Jackson und malte Bilder oder schrieb Dinge auf. Sagen wir so: Es gab echt mutigere, sozialere Kinder als mich. Smalltalk ist bis heute meine absolute Schwachstelle – vor allem auf Events, bei denen Menschen Anzüge tragen. Mir fällt einfach nie etwas ein, das ich sagen kann. Und fast noch schlimmer: Mir fällt auch nie etwas ein, das ich fragen könnte. Mein Gehirn macht dann einfach dicht. Ich stelle mir das in etwa so vor wie akute Blackouts in Prüfungssituationen. Da geht nichts mehr. Je größer der soziale Druck, desto weniger angemessen verhalte ich mich. Der erlösende Netzfund Lange, lange fragte ich mich, was mit mir wohl nicht stimmt. Mit Fremden zu sprechen, Dinnereinladungen à la „da kommen ganz tolle Leute, kennst du nicht, wird aber super“ wahrzunehmen, ans Telefon zu gehen oder mit dem Chef in der Teeküche darauf zu warten, dass das verdammte Wasser endlich kochte, raubten mir sehr viel Energie. Ich fühlte mich oft fehl am Platz, irgendwie anders, unbegabt im Umgang mit Menschen. Dabei mag ich Menschen total. Und wenn ich so was sagte wie: „Ich bin nicht so gut mit Fremden“, um mich beispielsweise vor einer Party zu drücken, auf der ich nur den Gastgeber kannte, reagierten die meisten mit: „Hä? Ach komm, stell dich nicht so an.“ Dann kämpfte ich mit meinen eigenen Bedürfnissen und den Erwartungen von außen. Irgendwann klickte ich auf einen random Link bei Facebook, er führte zu einem Artikel, in dem erklärt wurde, wie man einen introvertierten Menschen erkennt und was in ihm so vorgeht. In etwa so wie dieser hier. Ich muss zugeben, dass mir der Gedanke schon vorher mal hätte kommen können, aber erst da verstand ich: Ich bin introvertiert. Es war eine regelrechte Erlösung. Ich kann (gut vorbereitet) funktionieren, wenn ich Interviews gebe, wenn ich auf einer Bühne stehe, um einen Vortrag zu halten, wenn ich eine starke Meinung zu einem Thema habe – oder wenn ich besoffen bin. Die meisten (extrovertierten) Menschen haben Probleme, das Verhalten Introvertierter einzuordnen. Was ich ihnen nicht verübeln kann – dass ich mich selbst verstehe, ist auch erst eine neuere Entwicklung. Ich dachte lange Zeit, ich sei einfach nur schüchtern bis desinteressiert. Tatsächlich habe ich mich aber aufgrund meiner Introvertiertheit als weniger wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft gesehen. Weil ich zwischenmenschlich immer wieder in Erklärungsnot kam, mich aber nicht wirklich erklären konnte. Mit dem Ergebnis, dass mir häufig Attribute wie emotionslos, desinteressiert oder kühl zugeschrieben wurden, die wirklich so gar nicht wiederspiegeln, was in meinem Kopf und Herzen los ist. Introvertiertheit ist keine Frage des Wollens Extrovertierte haben oft wenig bis gar kein Verständnis für meine vermeintlich unsoziale Ader, weil sie selbst dann aufblühen, wenn sie unter Menschen sind, Neues probieren, das Leben spüren. Entscheide ich mich gegen ein Event oder eine zu spontane Aktivität, entscheide ich mich in ihren Augen gegen sie und das, was sie glücklich macht. Sie nehmen das entweder persönlich oder aber sie denken, ich sei depressiv, traurig oder im schlimmsten Fall: bockig und sauer. Ich muss mich immer und immer wieder erklären. Intro- oder Extrovertiertheit und alle Abstufungen davon sind aber keine Entscheidungen, keine Frage des Wollens. Das sind Hard Facts. Zu welchem der beiden Extreme man tendiert, wird zwar auch gesellschaftlich geprägt (siehe zum Beispiel Japan, wo Zurückhaltung voll das Ding ist), ist aber hauptsächlich angeboren und über das gesamte Leben recht stabil, auch wenn die Grenzen gedehnt werden können. Etwa ein Drittel der Menschen ist introvertiert. Das gilt bis heute als eher nachteilig und ich verstehe durchaus, warum. Könnte ich tauschen, hätte ich es vermutlich schon getan. „Der Idealmensch unserer Zeit ist gesellig, risikofreudig, ein Alphatier. Er arbeitet gut im Team, ist gern unter Leuten, hat ein großes gesellschaftliches Netzwerk. Gibt es mal einen ruhigeren Moment zwischendurch, nutzt er ihn, um zu twittern. Hauptsache, nicht allein sein“, schreibt dazu der Spiegel. Studien belegen auch, dass Introvertierte sich beispielsweise jobtechnisch nicht so geil verkaufen können. Und mal unter uns: Mit dem Daten haben die das auch nicht gerade einfach. Da muss man nämlich in der Regel mit Fremden sprechen. So ganz locker und natürlich. Ich mache oft Witze darüber, aber es stimmt: Ich trinke vor Dates immer einen Kurzen. Am liebsten date ich übrigens Extrovertierte, dann muss ich selbst weniger performen und generell klappt das Zusammenspiel später besser. Extrovertierte sind großartig! Sie ziehen mich an den richtigen Stellen aus meinen Gedankenkreisen raus, sie animieren mich, spontaner zu sein und Dinge zu probieren, die für mich herausfordernd sind, dann aber doch voll Spaß machen. Sie sprechen, wenn ich schweige. Sie helfen mir dabei, Ängste zu überwinden. Ich lerne von ihnen. Ich bewundere sie für ihre Offenheit – im Idealfall auch für ihre Geduld mit mir. Endgegner Gehirn Ich brauche viele Auszeiten zum Auftanken. Ich kann am Wochenende nicht morgens mit Freunden frühstücken gehen, dann über den Flohmarkt schlendern, eine Runde Tischtennis spielen, auf dem Flughafen Tempelhof abhängen, eine Pizza essen, eine Ausstellung besuchen, dann rüber zu Freunden, um dort Wein zu trinken und dann auf ein Konzert zu gehen und später vielleicht noch auf einer Party aufzuschlagen. Es ist mir physikalisch nicht möglich, den Tag derart vollzustopfen. Ich will das auch gar nicht, ich krieg nämlich schon beim Aufschreiben Herzrasen. In Studien wurde bei introvertierten Personen eine höhere Gehirnaktivität festgestellt – egal, ob sie arbeiten, joggen oder chillen. Der Rückzug nach innen ist also eine Art Schutz gegen zu viele Reize von außen, die Extrovertierte total abfeiern. Bei Introvertierten führen diese aber zu einer überfordernden Situation im Hirn, die danach mit Ruhe und dem Alleinsein ausgeglichen werden wollen. Ihr kennt das sicher vom Saufen – danach braucht man halt nen Tag im Bett, einen Eimer Schorle und was Gebratenes. Ich verbringe viel Zeit im Bad, wenn mir alles zu viel ist. Im Bad kann ich – auch während draußen ne Party in vollem Gange ist – auf dem Wannenrand sitzen, meine Zehen angucken, ein bisschen rumdenken und dabei einfach nichts tun. Das muss nicht mal mein eigenes Bad sein. Bäder sind mein Safe Space. Meine Freundin Anni sagte neulich mal zu mir: „Meine Familie und ich fragen uns schon seit mindestens einem Jahrzehnt, was du so lange im Bad machst, aber so bist du halt und das ist cool.“ Das war ein schöner Moment für mich, denn das ist der Grund, warum meine Freunde – selbst alle hochgradig extrovertiert – meine Freunde sind. Weil sie an mir schätzen, dass ich nur was sage, wenn ich auch was zu sagen habe. Dass ich zuhören kann. Dass ich empathisch und hochgradig loyal bin. Dass ich ein großes Herz habe. Dass ich sie liebe, obwohl ich mich zwischendurch zurückziehe und nicht so oft ans Telefon gehe. Mit mir ist alles in Ordnung! Mit dir auch! Nicht mit Menschen zusammen zu sein, ist für mich voll in Ordnung. Weil ich in meinen Auszeiten nicht im Bett liege und traurig bin, sondern mit mir selbst abhänge und ganz ehrlich: Das erfüllt mich. Ich habe keine Angst, etwas da draußen zu verpassen. Ich bemitleide mich nicht selbst, ich fühle mich auch nicht ungeliebt. Meine Freunde sind ja da – und wenn ich sie sehen möchte, treffe ich sie. Easy. Dass ich keine besonders ausgeprägten Menschenskills habe, dass ich im Smalltalk mit Fremden scheitere, wird mir der extrovertierte Teil dieser Gesellschaft hoffentlich längerfristig verzeihen. Und wenn wir uns alle ein bisschen Mühe geben, Verständnis für die jeweils andere Seite zu entwickeln, dann können wir uns total viel verschwendete Energie sparen und großartige Symbiosen der Vertiertheiten entstehen lassen. Jeder Mensch ist anders – und Introvertierte sind halt besonders anders. Ich bin nicht depressiv, ich bin introvertiert, danke der Nachfrage. Als klassische Introvertierte ziehe ich mich oft zurück. Ich kann Vorträge auf einer Bühne halten, aber danach nicht mit den Besuchern smalltalken. Warum meine Introvertiertheit immer wieder zu Missverständnissen führt, wie ich persönlich mit dem Thema umgehe und wie wir alle ein bisschen voneinander lernen können. Zuerst erschienen auf: www.imgegenteil.de Datum: 16. Juni 2016