Der Tag, an dem wir 331 Menschen vor Libyen retteten

Seitdem ich den Jugend Rettet e.V. Anfang des Jahres erstmalig traf, war ich von der Idee begeistert, ein Schiff zu kaufen und ins Mittelmeer zu fahren, um dort auf einer der gefährlichsten und hochfrequentiertesten Fluchtrouten der Welt Menschen in Seenot zu retten. Warum? In Berlin hatte ich Leute getroffen, die genau über diesen Weg nach Europa gekommen waren, und statt mich einzig mit den Herausforderungen der Zuwanderung hierzulande zu beschäftigen, zog es mich gedanklich immer weiter an die Außengrenzen Europas, an die Fluchtursachen. Der Plan des Vereins und des wahnsinnig engagierten Kernteams ging auf: Spendengelder ermöglichten den Kauf eines Schiffes, im Sommer half ich dabei, die IUVENTA für die Missionen im Mittelmeer startklar zu machen und näherte mich dem Gedanken, selbst auch an einem der Einsätze teilzunehmen.

Am 16. September 2016 machte ich mich mit einer 16-köpfigen Crew von Malta aus auf den Weg in das Einsatzgebiet an der libyschen Küste, westlich von Tripolis, wo wir zwei Wochen auf der Mission Humanity verbrachten. Ich bin noch immer emotional, noch immer betroffen, noch immer ungläubig, dass das alles wirklich passiert ist. Dankbar dafür, dass wir ein paar Stunden lang die Geschichten derer anhören durften, die in dieser Welt sonst nicht gehört werden. Hier möchte ich euch von dem Tag erzählen, an dem wir 131 Menschen aus einem Schlauchboot retteten.

Mittwoch, 21. September, 13 Seemeilen vor Libyen. Es ist kurz nach acht Uhr, der Alarm hat mich aus der Kajüte direkt auf das Vordeck gefegt. Ich habe vergessen, was zu trinken und mich einzucremen, trage meine Schlafklamotten. Auch wenn die Wellen eigentlich zu hoch sind und der Wind zu stark – irgendwo voraus muss ein Boot in Seenot sein, das hat uns das MRCC (Maritime Rescue Coordination Center) in Rom durchgefunkt. Nach diesem Boot suche ich. Bislang habe ich beim Ausguck immer nur irrelevante Dinge gefunden: Quallen, fliegende Fische, Bojen, Plastikflaschen, Fischerboote, manchmal Delfine oder Hubschrauber. Einmal habe ich der Brücke „Möwe auf siebzehn Uhr“ durchgefunkt, weil mir langweilig war, dann haben wir gelacht. Jetzt lacht niemand, jetzt sind alle konzentriert. (Foto: Zohra Bensemra/Reuters)

Wir haben ein Schlauchboot geortet, die Beiboote haben sich vorsichtig genähert und Rettungswesten verteilt, denn schwimmen kann hier kaum wer. Inzwischen sind wir so nah am Schlauchboot, dass ich mit dem Fernglas in die Gesichter der Menschen blicken kann. Einer guckt mich direkt an, und winkt. Ich fühle mich irgendwie ertappt, und winke zurück. Dann winken mir ganz viele Arme aus dem Schlauchboot entgegen, die Männer und Frauen lachen. Alle scheinen am Leben und wohlauf. Ich kenne die Bilder von diesen Booten eigentlich, ich habe mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, und doch: Hier auf dem Meer kneift mir die Realität ordentlich in den Oberarm. Jetzt bloß nicht heulen.

Die Wellen sind hoch, als unsere Crew beginnt, mühsam einen nach dem anderen an Bord zu ziehen. Ich stehe noch oben auf dem Vordeck und beobachte alles. Eine Frau macht den ersten Schritt an Deck, sie trägt keine Schuhe. Niemand trägt Schuhe. Sie taumelt ein paar Meter, hält sich am Geländer fest, dann nimmt einer unserer Männer, Chris, ihr die Rettungsweste ab. Die Frau läuft weiter, fasst sich an den Kopf, unser Arzt Moritz greift sie an den Armen. „Hello, what’s your name?“, fragt er und guckt ihr in die Augen. Ein paar Sekunden hat er pro Person, um den jeweiligen Zustand einzuschätzen und sie in Rot, Gelb und Grün einzuteilen. Die Frau antwortet nicht, hält sich den Bauch. Der Arzt zeigt auf die Treppe zum Vordeck, auf der sie kurz danach erschöpft zusammensackt. Alle, die antworten und in der Lage sind, Treppen zu steigen, werden auf das Achterdeck geschickt. Einer nach dem anderen. Zehn Minuten, zwanzig Minuten lang. Das Boot ist noch immer voll.

Ein Mann fällt auf die Knie, küsst das Hauptdeck der IUVENTA, drei am Boden sitzende Frauen schließen lachend eine vierte in ihre Arme, die gerade den Medizincheck hinter sich gebracht hat, sie alle haben kunstvoll geflochtene Zöpfchen. Einer trägt einen BVB-Trainingsanzug, das freut unseren Arzt. Auf der Treppe sitzt Samuel, 17 aus Gambia – er wurde ausgesucht, um auf die geschwächten Frauen aufzupassen.

Libysch-chinesisches Schlauchboot Marke Eigenbau, 9,5 x 2,7 Meter groß. Fünf Menschen pro Quadratmeter haben hier bis eben drin gestanden. Sie hatten Glück, denn sie wurden nach ihrer fünfstündigen Fahrt früh am Morgen gefunden – das Boot hatte noch nicht so viel Luft verloren. Von Bord der IUVENTA aus betrachten ein paar Männer das, was übrig blieb: zwei Kanister Diesel, ein paar nasse Kleidungsstücke und die kleinen Wasserflaschen, die sie sich zu viert geteilt hatten.

Ich verlasse meinen Ausguck-Posten und helfe unserer Krankenschwester, den gebrochenen Arm eines Mannes zu versorgen. Er hat auch ein gebrochenes Bein und verzieht sein Gesicht vor Schmerzen, als wir seinen geschienten Arm in eine Schlinge stecken. Nebenan liegt einer mit einem Streifschuss an der Wade, ein anderer hat ein gebrochenes Handgelenk. Auf der Flucht sei das passiert. Auf der Flucht, bei der er seine Mutter und seine zwei Brüder verloren habe. Ein paar der Menschen stehen an der Reling und übergeben sich. Ich sage einem jungen Mann, er heißt Mike, ist 24 und kommt aus Gambia, dass mir das auch so ging, das sei wegen der Wellen. Er lächelt. Noch nie sei er auf dem Meer gewesen. „Me too, first time on a boat“, antworte ich, dann trinken wir einen Schluck Wasser und machen ein Foto.

Nachdem alle Menschen aus dem Schlauchboot raus und die Rettungswesten neu gepackt sind, wartet die Beiboot-Crew auf Stand-by, denn wo ein Boot ist, sind oft mehrere. Hier unterhält Arzt Moritz sich mit Ronia. Ronia ist die niedlichste, jüngste und am wenigsten angsteinflößende Person an Bord, deswegen ist sie die Erste, die mit den Schiffbrüchigen spricht. Die größte Sorge hierbei ist, dass Panik ausbricht, weil die Menschen Angst vor dem unbekannten Schiff haben, das sich ihnen nähert.

Das Schlauchboot wurde bereits markiert und abgestochen, damit es von anderen NGOs als abgeborgen erkannt wird und für die Wiederverwendung durch Schlepper nicht in Frage kommt. Die Gäste beobachten, wie unser 1. Offizier Jonas auf dem luftlosen Boot steht und die Bodenplatten entfernt – man weiß nie, was man daraus später noch basteln kann. Das Ausschlachten der wertlosen Schlauchboote nennen wir intern „zum Baumarkt fahren“.

Etwa eine Stunde nach der Rettung aus dem Schlauchboot sinkt das Adrenalin, die Notfälle sind versorgt. Ich laufe über das Deck, versuche, bei dem Seegang niemanden zu treten. Überall sind Hände und Beine und Köpfe. Die meisten schlafen auf dem grünen, von der Sonne aufgeheizten Boden, andere starren auf das Meer, in ihren Blicken findet man nichts, sie sind leer. Wir können nur ahnen, was in ihnen vorgeht.

Wir nennen die Menschen an Bord „Gäste“, das gefällt mir, denn es sagt nichts über die Hintergründe der Einzelnen, nichts über deren Herkunft, die Flucht, den Status. Gäste hat man gerne im Haus, man möchte, dass sie sich wohl fühlen. In diesem kurzen Moment auf dem Meer sind wir gleich, mit dem Unterschied, dass die einen etwas Gastfreundschaft gebrauchen und die anderen welche geben können. Ich ziehe meine Einweghandschuhe aus. Ich soll das eigentlich nicht – schon allein wegen der Krätze –, aber es fühlt sich nicht richtig an, sie zu tragen. Ich möchte mich von diesen Menschen nicht mit meiner Sonnenbrille, meiner Kamera oder solchen Handschuhen abgrenzen, oder indem ich Abstand halte. Ich möchte mich an ihre Seite setzen und mit ihnen sprechen, möchte ihnen auf die Schultern klopfen, sie anlächeln und vielleicht für einen kurzen Moment das Gefühl vermitteln, dass sie nicht egal, dass sie tatsächlich einfach nur unsere Gäste sind – nicht mehr und nicht weniger.

Die meisten hier kommen aus Westafrika, aus Gambia, dem Senegal oder Nigeria, ein paar auch aus dem Sudan. Sie haben viel durchgemacht auf der Flucht. Wir sitzen mit einer Gruppe junger Männer unter dem Sonnensegel des Vordecks und hören ihre Geschichte an. Der Weg nach Libyen sei das kleinste Problem gewesen, Libyen selbst die Hölle. Nichts wären sie dort wert gewesen. Man hätte sie in notdürftigen Hallen gehalten, zu Hunderten, nach Herkunftsländern sortiert, wie Sklaven, wochenlang. Dort haben sie arbeiten müssen, wurden sie mit Stöcken geschlagen, misshandelt, dort wurde auf sie geschossen, wenn sie nicht gehorchten. In Libyen könne man nicht überleben, da sind sich alle einig. Hier zeigen die Männer unserer Beiboot-Fahrerin Carla, wo sie auf dem Schlauchboot gestanden hatten.

In der Nacht waren die Schleuser gekommen und hatten endlich sie ausgewählt, um sie auf das Boot zu stecken. Alles hatten sie an Land lassen müssen, ihre letzten Habseligkeiten. Dann hatte es geheißen: zwei oder drei Stunden geradeaus durch die Nacht, da sei Europa. Angst hatten sie gehabt, weil das Boot so voll gewesen war und die Wellen hoch. Einer der Flüchtenden hatte den Motor bedient, es war vier Uhr morgens gewesen. Was sie nicht wussten: Es ist unmöglich, mit den billigen Schlauchbooten den Weg nach Europa zu bestreiten, ohne Navigation und Wasser.

Samuel ist 17 und aus Gambia, er erwärmt unser aller Herzen. Er ist tapfer – hier sind alle tapfer. „Thank you for saving us“, lächelt er uns an. Er werde uns nie vergessen. Was er sich für die Zukunft wünsche, fragt wer. Irgendwann noch einmal seine Familie sehen zu dürfen, das sei alles. Ich knote das Band neu, an dem meine Sonnenbrille um meinen Hals baumelt, dann gehe ich mit meinen Emotionen Wasser holen.

Dieser Junge hatte keine Hose an. Nachdem Krankenschwester Luzie ihm eine neue aus den Klamottenspenden gebracht hat, bittet er mich, seine Freude in einem Foto festzuhalten. Endlich nicht mehr unten ohne. Say cheeeeese!

Dieser Junge aus Gambia bleibt an Bord der IUVENTA für sich, redet mit niemandem, chillt cool und unbeteiligt an der Reling rum oder – wie hier – am Bug. Mit einem Kugelschreiber hat er auf seiner Jogginghose Telefonnummern notiert. Clever, denn vor der Überfahrt wurde den Flüchtenden alles abgenommen – selbst Zettel mit den Kontakten ihrer Angehörigen. „Your family?“, frage ich und zeige auf die Ziffern. Er schüttelt den Kopf. „I have no family.“ Wir gucken gemeinsam auf das Meer und schweigen. „A big ship will bring you to Europe soon“, sage ich dann. Dem Jungen scheint egal zu sein, was mit ihm passiert. Er hat vielleicht Libyen überlebt, ist heute nicht auf dem Mittelmeer gestorben, aber angekommen ist er noch lange nicht. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihn zu umarmen, und lasse ihn wieder alleine.

Diesen Mann, Omar, 25, haben wir gerade mit den 130 anderen Menschen aus dem Meer gefischt. In seiner Heimat, dem Senegal, gibt es auf dem Markt viele deutsche Shirts zu kaufen. Auf seinem steht: „Warum soll ich mein Zimmer aufräumen, während die Welt im Chaos versinkt?“ Wir können es kaum fassen. Jetzt kommt das Kleidungsstück wieder zurück zu uns – mit den besten Grüßen aus Afrika. Schönes Sinnbild, schöne Ironie.

Die Vos Hestia, das Rettungsschiff der Organisation Save the Children, wird unsere Gäste an Bord nehmen und sie später nach Italien bringen. Vor Libyen sind wir nicht das einzige NGO-Schiff – der bekannteste Mitstreiter an unserer Seite ist die Sea Watch 2.

Mike hat gute Laune. Zum Abschied wünsche ich ihm viel Glück auf seiner Reise. Auch Samuel und Omar und die anderen verlassen uns.

Die Crew guckt der Vos Hestia noch lange nach, dann räumen wir gemeinsam das Schiff auf – die Rettungswesten müssen neu verstaut, Wasserflaschen eingesammelt und die Sonnensegel abgehängt werden, außerdem das Deck geschrubbt. Wir sind müde, es ist kurz vor vier Uhr. „Wieso soll ich die IUVENTA aufräumen, wenn die Welt im Chaos versinkt?“, sagt wer. Wir lachen. Was für ein absurder Tag.

Die IUVENTA schaukelt sind wieder alleine durchs Suchgebiet. Erst später werden wir erfahren, dass unsere Gäste sicher in Italien angekommen sind und dort auf unterschiedliche Städte verteilt wurden. Außerdem, dass eines der fünf Boote an diesem Tag von keiner Hilfsorganisation gefunden werden konnte. Es wurde wieder an die libysche Küste gespült, alle 130 Insassen waren tot.

In den letzten drei Monaten konnte die IUVENTA auf ihren ersten fünf Missionen insgesamt 4226 Menschen in Seenot retten. In Worten: Viertausendzweihundertsechsundzwanzig. Bitte helft uns, die nächsten Missionen zu finanzieren und zu planen und die EU weiterhin daran zu erinnern, dass es im Mittelmeer was zu tun gäbe.

Vielen Dank für euer Interesse und eure Hilfe.

Vielen Dank außerdem an den Verein, der trotz aller Hürden nie vergessen hat, dass wir alle Menschen sind und dass Menschen einander helfen. Und ganz viel Dank und Liebe an die Crew der Mission Humanity. Ihr habt einem Schisser wie mir ganz viel Sicherheit gegeben, ihr habt mir gezeigt, dass Duschen echt überbewertet ist und dass man ungefähr alles schaffen kann, wenn man ein gemeinsames Ziel hat, das von Herzen kommt. Ich vermisse euch.

Danke an (v.l.n.r): Arzt Moritz, Erstkontakterin Ronia, Krankenschwester Luzie, Head of RIB-Crew Kathrin, Maschinist Elias, RIB-Fahrerin Carla, Provision Master Chris, Kapitän Uli, RIB-Fahrer und Klodeckel-Bauer Clemens, Head of Mission Sascha, RIB-Fahrer Tilman, 1. Offizier Jonas, Nautik-Spezialist Adrian und Qi-Gong-Fachkraft Raphael.

Mission Humanity – Mit der IUVENTA im Mittelmeer

Am 16. September 2016 machte ich mich mit einer 16-köpfigen Crew von Malta aus auf den Weg in das Einsatzgebiet an der libyschen Küste, westlich von Tripolis. Dort verbrachten wir mit unserem Schiff, der IUVENTA, zwei Wochen auf der Mission Humanity. Ziel: Für und mit dem Jugend Rettet e.V. Menschen auf der gefährlichsten Fluchtroute der Welt orten und in Sicherheit bringen.

Ein Ausflug in unsere Welt, eine Reise ins Extreme.

Zuerst erschienen auf: www.imgegenteil.de
Datum: 21. Oktober 2016
Mehr zum Jugend Rettet e.V.: www.jugendrettet.org