Tag 1. Outfit: Badeanzug + Overall Ich habe seit 49 Minuten nicht auf mein Handy geguckt. Schätzungsweise. Um dies nachzuprüfen, müsste ich auf mein Handy gucken. Ich wiedersetze mich dem Drang und esse eine Mandel. Wir sind am Strand auf Fuerteventura – Cat und ich. Hier waren wir schon mal. Und weil die Insel so langweilig ist, dass man nicht durch Tempel, Märkte und Sangria-Eimer abgelenkt wird, kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren: das ultimative Relaxen. Ich bin das Gegenteil von relaxt. Ich bin dauergestresst. Wenn mich jemand in den letzten zwei Jahren fragte, wie es mir geht, sagte ich: „Viel zu viel zu tun.“ Als wäre das eine adäquate Gefühlslagenbeschreibung. So habe ich mich ganz schleichend zur personifizierten Gestresstheit gestresst. Das stresst mich ziemlich. Also relaxen. Zum Glück bin ich in den letzten Monaten auf eher spirituellen Pfaden gewandert. Ich habe zumindest so Bücher gelesen und Yoga gemacht und geatmet – wenn ich denn nicht zu gestresst dafür war. Ich blicke auf meine Knie und die vielen kleinen Sandkörner, die sich an meiner Sonnencreme festgesaugt haben. Weil ich es nicht ertragen kann, streiche ich das kostenlose Peeling behutsam fort, dann energischer. Es verteilt sich nun nicht nur großflächiger auf meinen Beinen, sondern auch an meiner Hand und wenig später in meinem Gesicht und in diesem Notizbuch (das ich inzwischen strebermäßig abgetippt habe). Ich bin neu am Strand – ich erlaube mir noch, mich über das Paradies zu beschweren, nehme mir aber vor, den Sand alsbald auch an mir klebend als schönes Souvenir an einen ebenso schönen Moment zu betrachten. Es nervt mich halt, das ist okay. Ich beobachte meine Emotionen, bewerte sie aber nicht. Schritt für Schritt. Ommmm. Tag 2. Outfit: Badeanzug Wir liegen wie immer (lies: gestern) am Strand, ich trage einen alten Oma-Badefetzen mit bunten Blumen drauf – eher altbacken als vintage. Ich schlage mich sonst ganz gut. Eben habe ich einen flinken Gecko mit Banane gefüttert, was mich ziemlich glücklich machte. Zwischendurch checke ich noch heimlich mein Handy, wenn ich so tue, als würde ich kurz ins Apartment, um die Toilette zu benutzen. Danach esse ich ebenso heimlich sehr viele Schokokekse. Auch den Zucker möchte ich nicht so recht loslassen.Cat hat sich bereits am ersten Tag ihres Bikini-Oberteils entledigt. Sie ist da nicht so. Für mich hingegen sind Nacktheit oder Strand oder beides zusammen eine große Herausforderung. Ich zeige meinen Körper nicht gerne, ich sehe andere nicht gerne nackt, ich gehe nicht gerne schwimmen, ich störe mich an zu heftigem Wind und zu heißer Sonne. Mich selbst am Strand zu akzeptieren und in den Fuck-It-Modus zu kommen, dauert wohl noch kurz. Atmen! Tag 3. Outfit: Selbst gebastelter Bikini aus Sport-BH und einer Unterhose meiner Mutter So. Ich gehe ins Wasser! Das gehört zu Urlaub. Ich möchte zumindest sagen können, dass ich einmal baden war. Außerdem drängelt Cat. Auf dem Weg ins Wasser dauert es lange, bis ich aufhöre, auf Zehenspitzen zu tippeln und bei jeder Welle, die meinen Bauch trifft, zu fluchen. Mir ist gefühlt immer 6 Grad kälter als anderen. Das ist besonders im Winter bitter, zieht sich aber auch durch den ganzen Sommer – und gilt selbstverständlich auch im Atlantik. Cat ist einfach reingehopst. Ich nehme all meinen Mut zusammen und tätige den ersten tatsächlichen Schwimmzug. Dabei quietsche ich. Vor Kälte. Vor Freude. Und muss Cat nachträglich darin bestätigen, dass man manchmal liebevoll zu seinem Glück gezwungen werden muss. Ich zumindest.Seitdem ich aus der Pubertät raus bin, sagt man mir, ich habe schöne Brüste. Mein erster Freund behandelte meinen Oberkörper wie eine Art privaten Schrein, den er sicher auch mit der Öffentlichkeit geteilt hätte, denn er gab gerne mit dem an, was er hatte. Ich oben ohne am Strand wäre die absolute Erfüllung seiner Träume gewesen. Leider war er krankhaft eifersüchtig, was ihn nicht davon abhielt, mich zu betrügen. Als ich ihn zwei Jahre nach unserer Trennung zu Hause besuchte, hing da noch immer ein schwarz lackierter Gipsabdruck meiner Brüste. Seine Freundin hatte wohl nichts dagegen – oder keine Wahl. Mein zweiter Freund gestand mir bei unserem ersten Date, er sei nicht so ein Brust-Fan. Das schien sich aber zu relativieren, als wir das erste Mal miteinander schliefen. Seine zwei Freundinnen vor mir hatten kaum Oberweite gehabt und wollten dort auch nicht berührt werden. Ich brachte ihm bei, dass das bei mir anders war. Irgendwann schlug es um und er kniff mir bei jeder Gelegenheit in die Nippel. Wenn wir nicht gerade zufällig fummelten, hasste ich das. Mein Zorn stachelte ihn nur noch mehr an. Als wir uns trennten, hatte er schon lange damit aufgehört, meine Brüste zu ärgern. Mein dritter Freund war – ohne das böse zu meinen – irgendwie asexuell. Wenn er mich nackt sah, bekam er eine Erektion, befahl seinem Körper aber, mit dem Blödsinn aufzuhören. Er verlor nie die Kontrolle über sich und war mir deshalb nicht ganz unähnlich. Da er Mediziner war, sagte er häufig, ich solle auf BHs verzichten, mein schönes Bindegewebe ließe dies ja zu und es sei eh gesünder. Ich nahm es als Kompliment und lernte Sport-BHs auch im Alltag zu schätzen. Dafür bin ich ihm noch immer dankbar (siehe heutiges Outfit). Er war ziemlich perfekt, was er genauso wenig von sich wusste wie ich von mir, dass ich schöne Brüste hatte. Was für eine Verschwendung von Körpern. Vielleicht ziehe ich morgen am Strand einfach mal mein Oberteil aus. Vielleicht. Tag 4. Outfit: Schlüpper So. Ich hab lange überlegt und es dann einfach getan. Ziemlich umständlich habe ich diesen Sportfummel ausgezogen. Wir liegen tatsächlich beide oben ohne in unserem steinernen Windschutz. Das muss ich sofort meinen Freunden schreiben. Die werden wissen, was das bedeutet. Ach nee. Handyverbot. Ich frage mich, wann mein Oberkörper zuletzt Sonne gesehen hat und kann mich nur an dieses eine Mal erinnern, als meine Mama und ich nackt an einem einsamen Strand in der Karibik badeten. Ich war zwölf.Ich liege so da rum und die ersten Minuten sind noch komisch, vor allem, wenn fremde Menschen uns zu nah kommen. Mit ziemlicher Sicherheit haben die andere Probleme, als mir auf die Haut zu glotzen, aber so genau weiß man es ja eben nicht. Ich creme mich ein, ich lese ein Buch, ich starre durch meine geschlossenen Lider zur Sonne, ich döse weg, wache wieder auf, gucke auf meinen Körper, esse ein paar Datteln, beobachte Kinder im Wasser, denke an zu Hause – aber nur kurz- und bin irgendwie stolz auf mich, weil ich ohne Handy, ohne Oberteil und ziemlich ungestresst hier liege. Die Prioritäten des Lebens lassen sich in diesem Urlaub sehr klar einordnen: Essen Schlafen Sonnen-induzierte Glücksgefühle Liebe für mich selbst (und weiter hinten für andere) Tag 10. Outfit: ein anderer Schlüpper Am Strand von El Cotillo, Abteilung Surfer, zweite Bucht von hinten, 16:15h Ortszeit, 22°C, Sonne, mäßiger Wind aus Westen. Im Wasser vor mir tummeln sich 15 Surfschüler, darunter Cat, und drei Lehrer. Surfer sind irgendwie heißer als normale Menschen – Geschlecht und Frisur egal. Ich bin nur am Glotzen, obgleich ich null Motivation verspüre, mich selbst am Brett zu versuchen. Dafür ist mir auch einfach meine Kondition zu schade.Ich liege hier alleine rum. Oben ohne, klar. Ich bin so relaxed, ich hätte heute Morgen fast einen Apfel samt Griepsch gegessen. Auf dem Weg zur Bucht habe ich mehrere Fremde nett gegrüßt und ein richtiges Gespräch geführt. Das sieht mir nicht ähnlich. Ich bin außerordentlich dankbar, glücklich, fast euphorisch. Dass ich auf lange Sicht überhaupt so wenig gestresst sein kann, war mir nicht bewusst. Note to self: Das ist ein äußerst erstrebenswerter Zustand! In meinem Kopf gibt es keine Deadlines, keine E-Mails keine ToDo-Listen (die ich so sehr liebe und so sehr verabscheue), keinen Wecker am Morgen, keine energieraubenden Diskurse mit anderen. Hier im Urlaub bin ich voller Liebe. Ich bin glücklich mit meiner eigenen Gesellschaft. Sicherlich würde die Urlaubseuphorie bei längerem Aufenthalt erst einer gewissen Schwermut und dann dem Alltag weichen, aber gerade jetzt bin ich offen für das Glück, die Spiritualität, für Veränderungen. Meine Gedanken kommen niemals zur Ruhe, mein Kopf ist ständig sehr laut am Denken. Manchmal wünschte ich, die Romane, die ich täglich durch mein Gehirn schleuse, würden automatisch schriftlich festgehalten. Ich könnte jeden Tag ein neues Buch in mein billiges IKEA-Regal stellen. Deswegen schalte ich morgens das Radio ein und abends den Fernseher. Hier auf Fuerte ist mein Kopf nicht leiser, aber ich kann das Wichtige besser hören und greifen, den unwichtigen Rest ziehen lassen. In Berlin liegt derzeit Schnee und ich sträube mich vor dem Gedanken, in ein paar Tagen in den Winter zurückzukehren. Ich bin mir aber sicher, dass mir die Sonne ewig aus dem Arsch scheinen wird. My Arsch will go on. Ich werde überleben. Cat hat gerade ihre erste Welle gestanden. Tag 14. Outfit: Ein echtes Bikini-Unterteil aus dem Dragon China 2012 Markt Heute ist unser letzter Tag. Rate, wo wir liegen. Klar. Am Strand. Mich kosten viele Dinge Überwindung, die für andere ziemlich normal sind. Hier auf Fuerte habe ich mich besonders oft überwunden. Ich habe das Internet ausgeschaltet (zumindest kurz), bin mit sandigen Füßen in meine Turnschuhe gestiegen, war gefühlt 90% der Zeit oben ohne und ungeschminkt, bin über schwindelerregende Klippen gewandert, habe Gesellschaftsspiele gespielt, mehrere Bücher gelesen und dabei die Stellen, an denen ich pausierte, mit absichtlichen Eselsohren markiert, ich habe rote Beete gegessen, war alleine spazieren und im Atlantik baden. Mehrfach! Gerade eben bin ich noch mal richtig aus mir rausgekommen und einfach getaucht. Unter Wasser! Mit Kopf und Haaren und allem. Jetzt habe ich auch eine Surferfrisur. Sogar Cat ist stolz.Irgendwie fühle ich mich auch schöner als sonst. Ich denke, das liegt an der ganzen Nacktheit. Ich habe schöne Beine und Hände und Brüste und mein Hintern ist auch voll okay. Ich mag es sogar, wie die Härchen auf meinen Armen und wahrscheinlich auch über dem Po golden glänzen. Und meine Haare, wenn sie offen im Wind wehen, und diese kleinen Sommersprossen auf Stirn und Nase. Ich werde das ausbauen. Ich werde 2016 hauptsächlich nackt sein, das nehme ich mir genau jetzt vor. Von einer, die (sich) auszog, um zu relaxen „Ich bin das Gegenteil von relaxt. Ich bin dauergestresst. Wenn mich jemand in den letzten zwei Jahren fragte, wie es mir geht, sagte ich: „Viel zu viel zu tun.“ Als wäre das eine adäquate Gefühlslagenbeschreibung. So habe ich mich ganz schleichend zur personifizierten Gestresstheit gestresst. Das stresst mich ziemlich.“ Eine Reise nach Fuerteventura, das Problem mit dem Relaxen und wieso ist dieses Nacktsein eigentlich so unangenehm? Zuerst erschienen auf: www.imgegenteil.de Erscheinungsdatum: 26. Januar 2016