Jamil, 21, Pakistan Ich sitze mit Jamil auf einem Stück Pappe am LAGeSo, die Sonne scheint und wir trinken einen Becher Leitungswasser zusammen. Ich kenne ihn seit etwa zwei Wochen. Jamil kommt aus Pakistan. Er ist alleine nach Deutschland geflohen, das hat drei Jahre gedauert. Er zählt die Länder auf, durch die er gereist ist und ich zoome zwischendrin gedanklich einfach weg, weil ich nicht verstehen kann, wie ein Mensch zu solch einer Reise in der Lage ist. Ich verstehe vieles nicht, hier am LAGeSo. Jamil ist 21. Das erste Mal sah ich ihn am Wasserstand, wo ich mit anderen Helfern zusammen tausende Becher füllte und verteilte. Er bat mich sehr höflich um Hilfe, aber seine Verzweiflung war nicht zu übersehen. Die Art, wie er mich voller Demut »Mam« nannte, der Fakt, dass er mich an meinen alten Schulfreund Jerome erinnerte, und seine dünne, jungenhafte Erscheinung trafen mich direkt im Herzen. Er berührte mich, ohne wirklich etwas getan zu haben. Ich wusste nur, dass er momentan im kleinen Tiergarten schlief, wie so viele andere Männer, die keinen Platz in einer Unterkunft kriegen konnten. »Es ist doch warm draußen und die sind jung«, hatte ich mal wen vom Amt sagen hören. Wenn man Jamil ansah, wusste man, dass es nicht darum ging, ob es nachts warm oder kalt war, sondern darum, dass er irgendwo ankommen, irgendwo in Sicherheit schlafen wollte. Ich lief mit einer Ladung Wasser über das staubige Feld in Richtung der am Zaun Wartenden. Jamil kam hinterher und nahm mir die schwere gelbe Postkiste ab. »I want to help you, Mam«, sagte er. »Aber du hast doch gar keine Handschuhe an und beim Tuberkulose-Test warst du auch noch nicht«, sagte ich auf Deutsch, wohlwissend, dass er mich nicht verstehen würde und dass diese Hygienevorschriften mir selbst total am Arsch vorbeigingen. Aber wenigstens hatte ich es angesprochen. Wir trugen Kiste um Kiste in die Menge. Es waren 39 Grad an diesem Montag. Jedes Mal, wenn jemand einen Becher nahm, verbeugte sich Jamil ein wenig, als würde er sich dafür bedanken, dass er helfen durfte. Obwohl Jamils schwarze Haare an den Seiten abrasiert waren, sah er aus wie ein Musterschüler. Seine Haut war glatt und warm. Er trug ein grünes T-Shirt, daran erkannte ich ihn schnell in der Menge. Er besaß außerdem noch eine braune Stoffhose, geschlossene Schuhe und ein Handy. Das war’s. Um sieben Uhr abends wurde das Gelände in Moabit geräumt. Hunderte Menschen versammelten sich auf der Straße. Jamils grünes T-Shirt sah ich hier und dort im Trubel aufblitzen. Zwei Gelenkbusse der BVG kamen und holten je etwa 60 Menschen, um sie in Notunterkünfte zu bringen. Weil Jamil nach seiner Ankunft an diesem Tag noch keine Wartenummer ergattert hatte, wurde er von einem Security-Mann mit dem Arm zur Seite gedrückt. »Weg, weg, weg hier.« Ich hatte dreizehn Stunden in der Sonne gearbeitet und nicht mal etwas gegessen. Ich hätte eh nichts essen können. Ich war in einem schwierigen Zustand – geistig völlig überdreht von den unzähligen Eindrücken des Tages und körperlich am Ende. Ich hätte zuvor niemals erwartet, dass diese Arbeit mich so wegreißen würde, aber sie hatte mir komplett das Fundament geraubt. All die Gesichter, all die Geschichten, all die Kranken und Schwangeren und Alten und Kinder und all die fassungslosen Helfer – es war einfach zu viel. Als es hieß, ein Aufmarsch der Bärgida sei im Anflug, ging ich. Das hätte ich nicht mehr verkraftet. Ich strich Jamil über den Arm und entschuldigte mich dafür, dass ich an diesem Tag nichts für ihn tun konnte. Dabei weinte ich, obwohl ich es mir hatte verkneifen wollen. »It’s okay, Mam. Don’t worry, Mam«, sagte Jamil und verbeugte sich wieder. Dann fuhr ich davon und weinte fast den ganzen Heimweg. Zu Hause fühlte ich mich schlecht, als ich mir einen Tee machte. Dort, in dieser Küche hätte er auf einer Luftmatratze etwas Platz finden können. Nachts schlief ich kaum, nach ein paar Stunden machten wir uns wieder auf nach Moabit. In unseren Taschen hatten wir Handdesinfektion, Seifenblasen, Luftballons, Vitamintabletten, Papier, Stifte und tragbare Handyladegeräte. Es war kurz vor acht Uhr, als ich Jamils grünes T-Shirt auf dem Platz sah. Ich ging zu ihm. Er strahlte mich an. »Good morning, Mam!« Dabei schüttelte er überschwänglich meine Hand. Ein anderer Helfer hatte ihn mit nach Hause genommen für die Nacht und dort könne er auch noch länger bleiben. Ich war erleichtert. Ich war so erleichtert, dass ich ihn fast in den Arm genommen hätte. Ich hielt mich zurück, so wie man es mir geraten hatte. Jungen Menschen fasste ich manchmal im Affekt an den Oberarm oder klopfte ihnen auf die Schultern. Ob ich ihnen etwas Zwischenmenschlichkeit geben wollte oder selbst welche brauchte, wusste ich nicht. Es fühlte sich manchmal einfach richtig an. Dass Jamil nur ein T-Shirt hatte, fand ich inakzeptabel, vor allem bei den Temperaturen. Bevor ich mit einem großen Haufen gespendeter Festival-Shirts in die Menge ging, um sie zu verteilen, steckte ich mir eins davon in meinen Rucksack. Das sollte Jamil später bekommen. Die Leute auf dem Feld überrannten mich komplett, als sie sahen, was ich für Schätze in meiner IKEA-Tüte hatte. Schätze. Werbe-Shirts. Shirts, die die meisten von uns nicht mal geschenkt haben wollten. Hier waren sie Grund genug, sich dafür zu prügeln. Ich hatte in den wenigen Tagen schon gelernt, mich durchzusetzen und brüllte die Menge ansatzweise zur Raison. Nach etwa einer Minute waren alle 50 Shirts weg und die Menschentraube löste sich auf. Ein Mann schimpfte mit mir, weil ich nicht genug gebracht hatte. »Sorry«, sagte ich nur und ging schnell weiter. Als ich Jamil das blaue Shirt brachte, wollte er es erst nicht annehmen. »But I have T-Shirt, look, Mam«, sagte er und zeigte auf sein grünes. Muttimäßig schwatzte ich es ihm auf und ging. Es gab so viel zu tun. In meinem Notizblock schrieb ich auf, wann wer was wie brauchte und in welcher Reihenfolge ich mich kümmern musste. Eine halbe Stunde später beobachtete ich Jamil, als er mit seinem neuen T-Shirt über den Platz lief. Nun hatte er zwei. In den nächsten Wochen sah ich ihn immer nur strahlend. Er wartete geduldig jeden Tag vor der Nummernanzeige und half immer mal wieder am Wasserstand. Manchmal, wenn ich nicht nach Moabit fuhr, rief er mich an und fragte, ob ich auf ein Wasser vorbei käme. So wie heute. »Nice shirt«, sage ich zu Jamil, als wir dort so auf unserer Pappe sitzen. Er lacht. »I know! You gave it to me, Mam!« Ich habe ihn nie gefragt, ob er eine Familie hat und warum genau er aus Pakistan geflohen ist. Dieser Moment dort auf der Pappe wird unser letzter gemeinsamer sein. Danach werde ich ihn nicht mehr unter seiner Nummer erreichen und auch er wird nie wieder anrufen, um zu fragen, ob wir zusammen ein Wasser trinken. Was mir in Erinnerung bleiben wird, sind diese freundlichen Augen, das strahlende Lächeln und die Art und Weise, wie er mich Mam nannte. (Auszug) Unbehauste – 23 Autoren über Fremdsein Herkunft, Identität, Zugehörigkeit – die Fragen danach ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte und finden in der heutigen Zeit eine Relevanz, welche unsere Welt vor neue Aufgaben stellt. 23 Autoren schreiben über das Gefühl des Unbehaustseins. Über Grenzen und Grenzerfahrungen. Über Heimat, Flucht, Reise und Suche. Über jene, die man liebt, und Orte, an denen man sich behaust fühlt. 23 Autoren wollen helfen. Mit Beiträgen Friedrich Ani, David Wagner, Kat Kaufmann, Benedict Wells, David Safier, Selim Özdogan, Marcus Braun, Anik Feit, Christoph Silber, Florian Wacker, Matthias Sachau, Jule Müller, Robin Baller, Jürgen Hobrecht, Judith Poznan, Manfred Theisen, Tina Ger, Michel Birbæk, Linda Rachel Sabiers, Norbert Kron, Ramona Raabe, Moritz Rinke und Alexander Broicher. Verlag: nicolai Herausgeber: Alexander Broicher Erscheinungsdatum: 26. November 2015 Seiten: 204 Bestellen: www.buchboxberlin.de ISBN: 978-3-89479-712-6